Abends steht plötzlich der Kassenwart des Spiekerooger Segelvereins auf dem Schlengel neben Néfertiti.
„Ich kenne euren Segelblog.“ Später werden wir Martin und seine reizende Familie noch ganz anders kennen- und schätzen lernen, aber der Einstieg ist schon klasse. Komplimente bezüglich des Segelblogs lassen sich ja nur noch durch Komplimente über das Boot toppen und Martin hat beides drauf. Aber wir wollen noch auslaufen, so dass wir uns kurz fassen. Nicht weit. Nur mal eben rüber zur Ostspitze Langeoogs, aber es herrscht ablaufendes Wasser. Die Halbe Tide ist fast durch. Wir sollten los!
Ich werfe noch einen schnellen Blick in die Karte, bei dem ich mich vollkommen auf unseren Ankerplatz konzentriere. Das Ankern sollte in der schwachwindigen Nacht keine Probleme aufwerfen, egal wo wir das Eisen letztendlich fallen lassen. Schon läuft die Maschine und wenig später tuckert Néfertiti durch die schnurgerade etwa eine Meile lange Hafenzufahrt. Ein Fischer mit einer Schulklasse an Bord überholt uns. Alle paar Meter sind rechts und links Pricken gerammt. Wir sind schon fast in der tiefen Balje, als Ima ihr Fernglas hervorholt:
„Was ist das für ein Vogel?“ Eine Küstenseeschwalbe überholt uns recht nahe.
„Eine Seeschwalbe.“ Ich folge dem eleganten Flugkünstler mit Blicken. Als ich wieder auf die „Straße“ schaue, biegt der Fischer rückartig nach Backbord ab, in die Balje, um kurz darauf wieder über Steuerbord zu drehen und Richtung Langeoog weiterzufahren.
„Und das da?“
„Wo?“ Ima zeigt auf einen größeren Vogel, den ich auf die Entfernung nicht erkennen kann, aber er ist größer als die Seeschwalbe und fliegt anders.
„Eine Möwe.“ Wir nähern uns dem Ende der Zufahrt. Mitten im Fahrwasser schwimmt etwas. Eine Pricke, die sich losgerissen hat. Ich will sie nicht in die Schraube bekommen. Da sie sich Backbord Voraus befindet, will ich sie an Steuerbord umfahren. Komisch. Hier gibt es plötzlich Steuerbords keine Pricken mehr? Warte mal… Die Topzeichen! Das Fahrwasser ist genau hier abgeknickt und ich bin geradeaus sozusagen aus der Kurve getragen worden und die Tiefe nimmt rapide ab. Ich reisse die Pinne herum, da geht auch schon ein Ruck durch Néfertiti. Wir sind aufgelaufen. Die Pricke schwimmt nicht in der Mitte des Fahrwassers, sondern ist nur abgeknickt. Sie markiert den Rand des Fahrwassers und wir sind auf der verkehrten Seite.
Vollgas zurück bewegt Néfertiti keinen Zentimeter. Vollgas voraus auch nicht.
„Ima! Jetzt zählt jede Minute! Nimm die Pinne!“
„Okay.“ Ich versuche Néfertiti durch Gewichtsverlagerungen loszuschaukeln. Ima wedelt mit der Pinne. Keine Chance. Noch herrscht etwas Wind. Vielleicht drei Windstärken. Vielleicht mit Segelunterstützung?…
Wir kommen auch mit den Segeln nicht frei. Als zehn Minuten später die Bruchstelle der Pricke durch die Wasseroberfläche bricht, breche ich unsere Befreiungsaktion ab. Rolle auch die Genua wieder ein.
„Und jetzt?“ Imas Tonfall kann ich entnehmen, dass sie das gerade überhaupt nicht toll findet. Vorsichtig ausgedrückt.
„Wir können nur warten. Bei Niedrigwasser bringe ich den Anker aus. In sechs, sieben Stunden werden wir wieder flott sein.“
„Mitten in der Nacht?!“ Ja. Mitten in der Nacht. Durch den Versuch mit den Segeln liegen wir leicht schräg. Wenn das Wasser ganz abgelaufen sein wird, werden wir vollkommen auf der Seite liegen.
„Wir müssen doch irgendetwas machen können… Bitte ruf die Seenotrettung an!“
„Wir sind nicht in Seenot.“
„Bitte! Kannst Du einmal um Hilfe bitten, wenn du Hilfe brauchst?“
„Wirklich nicht. Wir sind aufgelaufen. Nichts weiter.“
„Nichts weiter?! NICHTS WEITER?!!“ Oh Mann! Jetzt hängt auch noch der Bordfrieden schief. Nach kurzem Hin und her wird mir klar, dass ich nur eine Chance habe, den zu retten. Wie unnötig mir das auch scheinen mag…
Ich hole mein Handy aus dem Schapp und rufe die einprogrammierte Nummer der Seenotrettung an. Erkläre dem Mann am anderen Ende der Leitung unsere Lage. Abschließend stelle ich meine Frage:
„Könnten sie uns hier überhaupt runterziehen, bevor das Wasser wieder aufgelaufen ist?“
„Nee. Wir würden den Wasserstand abwarten. Ist ja keine akute Gefahr. Wir könnten so gegen Mitternacht rausfahren und Euch assistieren.“
„Okay, danke, aber dann kommen wir alleine klar.“
„Bringt nur bei Niedrigwasser einen Anker aus, dass íhr nicht vertrieben werdet, sobald das Boot wieder aufschwimmt.“
„Ja, klar. Das hatten wir sowieso vor.“
„Und wenn irgendwas ist: Ihr könnt euch jederzeit melden!“
„Ja, Danke dafür. Das werde ich machen.“ Wir verabschieden uns und ich lege auf. Ima hat die schlechte Nachricht schon mit angehört. Naja. Ich bin ehrlich gesagt ganz froh darüber, auch wenn ich das momentan lieber nicht an die große Glocke hänge. Ich ziehe die Seekarte noch einmal zu Rate. Das Fahrwasser macht einen Haken, besser gesagt ein Häckchen. Es ist ganz deutlich eingezeichnet. Ich habe es übersehen und gedacht die Hafenzufahrt würde schnurgerade in die Balje führen. Hätte ich vorher genauer in die Karte gesehen oder auch nur besser auf die Pricken und ihre Topzeichen geachtet, wäre das nicht passiert.
Eine Stunde später ist meine Koje unbewohnbar. Wir sichern alle Sachen, die nicht niet- und nagelfest auf der Steuerbordseite liegen, so dass sie nicht herunterfallen werden, wenn die Krängung noch weiter zunimmt. Ich mache es mir auf den Bodenbrettern bequem. Ima hat da mehr Glück, auch wenn sie es nicht wirklich zu schätzen weiß.
„Ein romantischer Abend vor Anker geht anders.“
Das Wasser läuft ab. Irgendwann liegt Néfertiti so schräg wie noch nie. Auch nicht damals vor Aerosköbing. Die Stimmung an Bord bleibt angespannt, zumal Ima durch die ungewohnte Perspektive Übelkeit verspürt. Ein Anflug von Seekrankheit, dabei bewegt sich hier nichts mehr. Als nur noch fünf Zentimeter Wasser um uns stehen, klettere ich über das Deck zur breitesten Stelle Néfertitis und hinunter auf den Sand. Kalt umspült das Seewasser meine Füße. Grauer Himmel. Ungemütlich. Aber welche Wohltat nicht mehr auf der schief liegenden Néfertiti zu sein!
„Ima komm doch herunter. Das tut gut.“
„Nee, das schaffe ich nie!“ Es fängt an zu nieseln. Ich lasse mich davon nicht stören, wandere um unser kleines Inselchen. Als es wieder aufhört zu regnen rufe ich von draußen abermals in die Kajüte:
„Ima? Wenn dir schlecht ist ,komm doch runter. Es geht dir gleich wieder besser!“
„Ich komme da nicht runter, habe nicht so lange Beine wie du!“
„Ich helfe dir!“ Tatsächlich klettert sie umständlich zwischen Deck und Reling hindurch auf den Sand. Zu dem Zeitpunkt steht überhaupt kein Wasser mehr unter Néfertiti. Ima wandert über die Sandbank und es geht ihr von Minute zu Minute besser. Zumindest körperlich. Ich bringe den Anker aus und befreie die Kielsohle von Seepocken. Beim normalen Trockenfallen in Finkenwerder bin ich an die Stellen nicht herangekommen. So hat das unfreiwillige Trockenfallen doch auch etwas Gutes. Nach einer Weile kommt das Wasser zurück und wir klettern wieder an Bord.
„Stellst du einen Wecker?“
„Wer soll denn hier …“ Ima wirft einen bedeutungsvollen Rundblick durch die Kajüte „… schlafen?“ Ich schalte das Ankerlicht ein, schlüpfe in meinen Schlafsack und mache es mir auf den Bodenbrettern gemütlich. Polstere den Rücken mit Kissen und bin angeblich in Sekunden eingeschlafen… (Ich halte das für ein Gerücht)
Einen Wecker brauche aber auch ich nicht. Néfertiti hat sanft angefangen sich zu regen. Noch eine (lange) Weile hält der Kiel sie fest, aber der Rumpf schwimmt schon. Langsam aber sicher richtet sie sich wieder auf. Es ist stockfinster als Néfertiti aufschwimmt. Sie treibt schnell über den Anker. Die Kette kommt steif und der Bug dreht sich in Strömungsrichtung. Ich steige an Deck und prüfe, ob der Anker hält. Alles klar. Kein Ruckeln. Dann hole ich den Handscheinwerfer aus dem Schapp, den wir jahrelang unbenutzt spazieren gefahren haben. Leuchte zu den Pricken, um mich zu orientieren. Ich kann sie trotz der Reflektorstreifen nicht unterscheiden. Wäre gut, wenn sie auf der grünen Seite einen Streifen anbrächten und an der roten zwei. (Als ich später Martin von diesen Momenten erzähle, erfahre ich zu meinem Erstaunen, dass die Streifen rot bzw. grün leuchten. Ich habe das wegen meiner Farbenschwäche nicht wahrnehmen können. Und obwohl ich seit Jahrzehnten im Watt segele auch nicht gewusst. Allerdings war ich hier auch bislang nicht nachts unterwegs.) Néfertiti liegt an der Ankerkette genau im Fahrwasser. Der Strom zieht gewaltig. Positionslichter einschalten. Ankerlicht aus. Während Ima den Motor vorglüht, hole ich die Ankerkette kurzstag und greife nach dem Scheinwerfer, um die Pricken noch einmal anzuleuchten und Ima zu orientieren, wohin sie fahren soll, da ruft Ima:
„Wir haben nur noch einsneunzig!“ Verdammt, jetzt schliert der Anker in der starken Strömung. Ich lasse die Kette wieder aus, in der Hoffnung, dass der Anker noch einmal fasst, und rufe gleichzeitig:
„Motor an!“ Ima glüht noch einen Moment weiter vor und startet dann.
„Einssiebzig.“ Dröhnend erwacht der Motor zum Leben. Ich zerre die Ankerkette hoch.
„Wo soll ich hin?!“ Ich kann das im Dunkeln auch nicht sagen.
„Richtung Leuchtbake.“ Endlich bricht der Anker durch die Wasseroberfläche (kann in Wirklichkeit nur Sekunden gedauert haben, bei der wenigen Wassertiefe.)
„Anker ist frei!“
„Welche?“ Beide Baken liegen auf der anderen Seite des Fahrwassers, sind also richtig, aber die eine ist viel weiter weg. Aber bevor ich etwas rufen kann höre ich Ima:
„Ahh jetzt wird es tiefer!“ Ich lasse den Anker an Deck liegen, greife nach dem Handscheinwerfer und haste nach achtern. Schalte den Handscheinwerfer ein. Der starke Lichtstrahl wandert über die schwarze Wasseroberfläche und bleibt an einer Pricke hängen. Bzw. an einem reflektierenden Streifen. Die Topzeichen sind für mich nicht auszumachen. Ich hätte Ima fragen können, wenn ich gewusst hätte, dass sie verschiedenfarbig leuchten. So sind die Pricken für mich jetzt Seezeichen, von denen ich weiß, dass die eine Seite zu flach für uns ist, aber nicht welche. Naja. Wir haben schnell auflaufendes Wasser. Sollte ich die verkehrte Seite erwischen, werden wir nicht lange fest liegen. Ganz langsam nähern wir uns. Wo ist die folgende Pricke? Es gibt scheinbar keine mehr. Da erfasst der Scheinwerfer doch noch ein reflektierendes Leuchten. Plötzlich wird es wieder flach. Verkehrte Seite.
„Ruder Hart Backbord!“ Ima reisst das Ruder herum und sagt gleichzeitig:
„Übernimm du mal lieber.“ Die nächste Pricke scheint zur anderen Gruppe, den Spitzen zu gehören. Richtig erkennen kann ich es nicht. Orientiere mich mehr an der Leuchtbake. Die Tiefe nimmt zu. Vier Meter … Fünf …Puh! Wir sind in der Balje. Ich wende Néfertitits Bug Richtung der zweiten Bake, von der ich weiß, dass sie im Tiefen steht und auf beiden Seiten passiert werden kann. Gegen den starken Strom bewegen wir uns nur langsam vorwärts. Als die Anspannung von mir abgefallen ist, rufe ich noch einmal bei den Seenotrettern an, um sie darüber zu informieren, dass wir aus eigener Kraft frei gekommen sind. Ich habe die gleiche Stimme am anderen Ende wie vorhin. Der Herr ist etwas erstaunt, dass ich uns sozusagen abmelde und gleichzeitig hoch erfreut.
„Danke für die Rückmeldung, dann kann ich da ein Häckchen dran machen.“
Wenig später erreichen wir die Ostspitze Langeoogs. Mittels Echolot taste ich mich Richtung Strand vor. Der Anker fällt. Eindampfen. Die Maschine verstummt. Ima ist schon unter Deck. Ich steige den Niedergang hinunter, froh endlich angekommen zu sein. Schalte die Positionslichter aus und das Ankerlicht ein. Ich schäle mich aus dem Ölzeug. Néfertiti arbeitet in einer durch das Seegatt herein stehenden Dünung.
„Ganz schön unruhig.“ sagt Ima.
„So gesehen war das da drüben natürlich besser.“ Lachen kann Ima darüber noch nicht, aber wenigstens zieht wieder ein Schmunzeln über ihr Gesicht.
♦♦♦
Dieser Eintrag unseres Segelblogs spielt in der Nacht vom 17. auf den 18.8.
Imas Ruf nach der Seenotrettung erinnert mich an unseren Sommertörn Rügen rund. Wir liefen unter Segeln, hatten aber die Maschine mitlaufen. Plötzlich fiel diese aus. Wir waren vor Sassnitz und wollten auch dort hin. Meine Navigatorin bekam gleich Bludruck. „Bitte ruf die SAR an, die sollen uns reinschleppen“ „Nein, das ist kein Seenotfall, wir können nach Sassnitz reinsegeln. Außerdem schau ich erstmal“ was die Maschine hat“ Ihr Blutdruck stieg weiter, aber ich verschwand im Maschinenraum und hab den Dieselfilter getauscht. Danach sprang der Motor wieder an. Manchmal hat die holde Weiblichkeit schon merkwürdige Ideen
Naja. Ich glaube, Ima wollte vor allem den romantischen Abend retten…
Sassnitz kennen wir ja auch. Da ist wirklich massig Platz, um unter Segeln einzulaufen und an der lange Pier kann man sicher auch ungeübt unter Segeln anlegen. Aber toll, dass Du das Problem auf See beheben konntest.
Liebe Grüße
Klaus
Witzig, da habe ich dir doch letztens erzählt, dass mir sowas in der Elbe passiert ist… mein Boot stand genau so schief und das hat sich sehr seltsam und ungewohnt angefühlt (Die ganze Geschichte hier: https://booteblog.net/2018/04/22/ungewollt-festgefahren-wasser-weg-trocken-gefallen-zum-ersten-mal/ ).
Ich kann mir gut vorstellen, dass Ima das nicht toll fand – meine Familie würde das auch nicht gerne erleben
Hi Julian,
Niemand erlebt das gerne. Aber für manche ist es schlimmer als für andere.
War ein schöner Abend mit Euch.
Liebe Grüße auch an Steffi!
Klaus
Ich vermute mal Glück, dass du einen Langkieler hast.Mit unser (leider ehemaligen) Eisbeere wäre das vermutlich ziemlich haarig geworden. So gesehen ein interessantes Erlebnis.
Mensch Lucky, Ihr habt die Eisbeere verkauft? Seid ihr jetzt ohne Boot oder habt Ihr ein Neues?
Ja Langkieler rocken, was sowas angeht.
Grundberührungen machen uns wenig Sorgen. 
Liebe Grüße
Klaus
Leider nix Neues. Mit den Zwillingen war uns das letztlich zu stressig und neben den Kosten braucht man ja bekanntlich diverse Zeit zur Pflege etc. Also sehr schweren Herzens… alles im Leben hat seine Zeit. Die des eigenen Bootes ist jetzt eben (erst mal) vorbei.
Alles hat seine Zeit. Du hast vollkommen Recht. Ich kann mir vorstellen, wie schwer Dir das gefallen sein muss. Auf der anderen Seite finde ich es großartig von Dir, dass Du so etwas für Deine Familie tust. Respekt!
Schön, dass Du trotzdem noch hier mit liest!
Alles Liebe
Klaus
Naja – so bleibt wenigstens etwas vom Segeln. Und so lange du schreibst wie du schreibst werde ich den Blog immer lesen!
Lieber Lucky,
Danke. Das ist mir ein riesiges Kompliment. Ich freue mich wahnsinnig darüber. Ich gebe mir Mühe, dem auch weiterhin gerecht zu werden. Es war mir immer ein Bestreben einen Blog zu schreiben, den ich selbst gerne lesen würde. Das mache ich auch weiter.
Sehe vor meinem inneren Auge gerade noch einmal die Situation, als ich übernächtigt in aller Herrgottsfrühe einhand auf Anholt ankam und Du zufälligerweise gerade aufgestanden warst, auf dem Steg standest und meine Leinen angenommen hast.Später unser gemeinsames Frühstück… Herzliche Grüße an Thomas und HM.
Alles Liebe
Klaus