Noch eine Stunde bis Hochwasser. Leichter Wind aus Ost (!) und blauer Himmel. Wir heißen die Segel und gehen ankerauf. Langsam gleitet Néfertiti an der letzten Tonne vorbei auf die ersten Pricken zu…
Nordischer Sommer. Laue achterliche Winde und Sonnenmilch. Was will man mehr?
Naja. Eines wüßten wir schon: Internet. Es gibt eine neue Schnittversion unseres Filmdemos, die wir runterladen und sichten müssen. Iman war sich sicher: „In Spiekeroog gibt es bestimmt auch Internet in der Kurverwaltung.“ Ich war mir da nicht so sicher. In Wangerooge kennen wir uns mittlerweile aus … Aber das hätte geheißen: zurück segeln. Etwas was Iman unter keinen Umständen möchte und auch ich bin neugierig auf Spiekeroog.
Das Fahrwasser macht einen Bogen und ich gehe auf das Vorschiff, um die Genua auszubaumen. Der letzte Flutstrom schiebt uns. Wir segeln Schmetterling. Néfertiti läuft langsam von Pricke zu Pricke. Iman sitzt an der Pinne. Ich klettere den Niedergang hinunter und fülle Wasser in den Wasserkessel.
„Gas an, bitte!“ Ich höre das Klacken des Haupthahns, dann ruft Iman draußen:
„Gas ist an!“
Wenig später ist der Tee fertig. Unsere braunen Segel ziehen uns gemächlich durch die Alte Harle.
Wenn man bei leichter Brise so vor sich hin dümpelt, hat man massig Zeit seine Entscheidungen zu überdenken. Nicht immer zum Guten. Neuharlingersiel sieht von See aus interessant aus. Unser Frischvorrat geht zur Neige und wahrscheinlich können wir auf dem Festland billiger einkaufen als auf den Inseln. Und Internet gibt es da bestimmt auch…
So kommt es, dass wir weit vor Spiekeroog die Segel bergen und den langen Leitdamm vor Neuharlingersiel entlang motoren. Kurz einkaufen, das Demo begutachten und weiter nach Spiekeroog. So ist der Plan. Am Schwimmsteg ist sogar ein Plätzchen frei. Wie für Néfertiti gemacht. Mein Blick eilt zum Ufer: Am Flutsaum kommt der Schlick schon raus. Wir werden sanft einsinken…
Ein Mann kommt den Steg entlang auf uns zu.
„Moin.“ Er schaut nicht auf, aber erwidert meinen Gruß:
„Moin.“ Und klettert an Bord seines Schiffes.
Clubmitglieder begrüßen einander von Bord zu Bord, halten Klönschnack auf dem Steg und erwidern auch artig unsere Grüße. Hier ist was los. Reges Clubleben, wie es scheint, und das an einem Donnerstag.
Iman übernimmt die Sache mit dem Internet, während ich mich auf die Suche nach einem Supermarkt mache. Der Edeka liegt vor den Toren der Stadt. Gut drei Kilometer Fußmarsch, immer an der Hauptstraße entlang. Beim ersten Mal habe ich nicht alles mitgekriegt. Ich werde noch einmal los müssen, um Obst und Säfte zu kaufen. Auch Iman tut sich schwer: Im ganzen Ort gibt es kein öffentliches Internet.
Als ich zum Steg zurückkehre, sehe ich schon von weitem, dass etwas mit Néfertiti nicht stimmt. Der Mast neigt sich gefährlich zum Steg hin, wo der Windgenerator unseres Nachbarn auf der anderen Seite des Stegs sich mangels Wind nicht dreht, aber doch auf Kollisionskurs liegt… Noch geht das klar. Aber das Wasser wird noch zwei Stunden lang ablaufen! Ich überlege kurz. Werde eine Leine vom Masttop zum Ufer zu spannen. Aber damit würde ich die Zufahrt sperren und da sind zwei bemannte Boote, die eventuel noch raus wollen. Als ich auf dem ersten frage, der Kluntje, kommt der Skipper, Ari, gleich auf den Steg geklettert, um sich die Sache anzugucken. Die vom zweiten Boot wollen tatsächlich raus, brauchen noch zwanzig Minuten.
„Aber bitte beeilt Euch! Das Wasser fällt noch zwei Stunden!“
Inzwischen hat sich Ari das Malheur angesehen:
„Néfertiti wird sich nicht mehr weiter neigen. Ist tief genug eingesackt.“ Er segelt seit 15 Jahren im Watt. Trotz seiner großen Erfahrung zweifele ich.
„Ich habe noch einen Fender für Dich. Kannst du auch behalten. Ich habe selbst gerade einen geschenkt bekommen und jetzt einen zuviel, der nur Platz wegnimmt. Wenn wir den noch dazwischen klemmen, passiert hier nichts.“ Gesagt, getan. (Perfekte Größe. Genau so einer hat mir noch gefehlt. Danke, Ari).
Zur Sicherheit will ich trotzdem die Leine spannen, aber die Leute vom zweiten Boot treffen noch immer keine Anstalten auszulaufen. Haben nicht einmal das Sonnendach vom Großbaum genommen. Eine halbe Stunde ist vergangen, dann eine dreiviertel. Ich gucke immer wieder hinüber, aber die gucken weg. Tatsächlich hat sich Néfertiti nicht mehr weiter geneigt. Es scheint, dass Ari Recht hat. Und auch der Steg ist nicht mehr tiefer gesunken. Anscheinend liegt er selbst auf dem Schlick auf. Von daher bin ich inzwischen gelassen. Auch wenn sie jetzt ablegen, werde ich keine Leine mehr spannen. Trotzdem finde ich dieses Trödeln … befremdlich. Da steigt die Frau von dem zweiten Boot auf den Steg, ihr kleiner Sohn begleitet sie. Kinderanimation im Hafen… Das sieht nicht nach Ablegemanöver aus. Als sie auf meiner Höhe ist, guckt sie so angestrengt an mir vorbei, dass ich sie von der Seite anspreche:
„Hi. Wann lauft ihr denn aus?“ Sie guckt mich mit großen Augen an:
„Wir sind nicht mehr rausgekommen. Trotz des geringen Tiefgangs. Wir haben dreimal zu dir rüber gerufen, aber du hast ja nichts gehört.“
Ich gucke sie sprachlos an. Was sind das für Segler? Ich verstehe solche Menschen nicht. Sie wissen um meine Not, wissen, dass ich nur auf sie warte, merken, dass ich sie nicht gehört habe (falls sie überhaupt gerufen haben) und sind zu bequem die zwanzig Meter zu mir rüberzulaufen, um mir Bescheid zu geben?! Oder ihren Sohn zu schicken?!
„Na danke auch.“ Ich wende mich kopfschüttelnd ab.
Iman kommt zurück. Sie hat einen Geschäftsmann bezirzt. Der hat sie in sein Büro gelassen … und sie konnte das Demo runterladen. Supernett. Danke. Ich gehe noch einmal los, die fehlenden Sachen zu besorgen.
Als ich zurückkomme, hat Iman das Stromkabel gelegt, um ihr Handy zu laden. Ich finde das nicht in Ordnung, wir wollen ja gleich wieder los. „Du kannst doch nicht einfach Strom nehmen.“ „Sei doch nicht so spießig,“ sie gibt mir einen Kuss, „Die paar Cents.“ Auf der anderen Seite, denke ich, subventionieren wir in jedem Hafen die Riesenyachten mit ihren Tiefkühltruhen, wenn wir für einmal Handyladen drei Euro Strompauschale zahlen. Ich kämpfe noch mit mir, aber bevor ich zu einem Ergebnis komme, werde ich anderweitig aus meinem Zwiespalt befreit, denn es klopft an die Bordwand und als ich den Kopf zum Luk rausstrecke, steht der Stegwart vor mir.
„Wir legen gleich ab.“ Er will trotzdem Liegegeld von uns haben:
„Wenn ihr über Nacht bleiben wollt: 14 €. Wenn ihr heute noch auslauft, erlasse ich euch die Servicegebühren und ihr zahlt 10€.“ Und mit Blick auf das Stromkabel: „Ihr habt schließlich Strom genommen.“
„Wir können ja den Strom bezahlen.“
„Anders kann ich das nicht machen.“
Wer soll das verstehen? Wir überlegen. Es ist schon blöd, zweimal Liegegeld zu bezahlen. Aber vorher will ich noch eines wissen:
„Hier können wir sowieso nicht bleiben. Was ist das für seltsamer Untergrund? Überall Schlick, aber wir sind mit 1,50m Tiefgang trockengefallen.“
„An der Stelle wurde Sand aufgeschüttet. Ist die einzige Stelle. Überall sonst sinkt ihr in den Schlick ein. Wenn ihr übernachten wollt, könnt ihr da drüben liegen. “ Aha.
Das lässt die wortkarge Gastfreundschaft der Vereinsmitglieder in einem befremdlichen Licht erscheinen. Keiner hatte ein Wort der Warnung übrig, dabei sind wir garantiert nicht die ersten, die hier trockenfallen.
Ich sehe Iman an. Wir brauchen keine Worte, um uns zu verständigen. Hier wollen wir nicht bleiben. Ich zahle die 10€.
„Wir gehen vor Hochwasser raus.“
„Ok. Quittung?“ …
Noch ist das Wasser nicht weit genug aufgelaufen. Wir machen einen Spaziergang zum Deich. Inzwischen ist auch Wind aufgekommen. Ich frage mich gerade, warum man wohl ein Hafenbecken mit Sand aufschüttet, oder auch nur einen Platz, da sieht mich Iman verschwörerisch an und fragt:
“Wollen wir nicht zurück zu unserem Ankerplatz? Wir haben alles, was wir brauchen. Und das Wetter ist toll.“ Iman will zurück segeln?
Ich gucke sie an und finde das ist eine tolle Idee.
Als wir zum Steg zurückkommen und Néfertiti seeklar machen, raunzt uns eines der Clubmitglieder von seinem Motorboot aus an:
„Ihr müsst noch bezahlen!“
„Wir haben bezahlt.“
„Wenn ihr bezahlt hättet, hinge bei Euch ein gelbes Schildchen!“
Neuharlingersiel. Was waren das noch für Zeiten, in denen sich alle Vereine gegenseitig Gastrecht einräumten? Wo man nicht für jede Stunde einen Parkschein brauchte…
Wir legen ab, ohne uns weiter um den grimmigen Mann auf seinem Motorboot zu kümmern. Ari und seine Kluntje folgen uns. Die wollen westwärts. Am Ende des Leitdammes trennen sich unsere Wege.
Unter Vollzeug läuft Néfertiti mit drei, vier Knoten durch die alte Harle. Manchmal 5. Hinter uns kommt ein Motorsegler auf. Er traut sich nicht zu überholen und drosselt seine Motorfahrt. Das letzte Stück müssen wir kreuzen. Aber ich weiß ja von unserer Erkundung, wie breit das Fahrwasser hier ist. Wir gehen unter Segel vor Anker. Wieder auf drei einhalb Metern. Kochen etwas, schmökern. Iman geht früh in die Koje, während ich noch aufbleibe. Jetzt hat das Krimifieber mich erwischt.
Als ich das Licht ausknipsen will, scheint es mir, dass Néfertiti sich leicht nach vorne neigt. Fallen wir gerade trocken? Kann nicht sein! Trotzdem schalte ich das Echolot ein. 1,50m. Die Erkenntnis kommt schlagartig: Wir haben wie beim letzten Mal auf 3,50m geankert, allerdings nicht wie letztes Mal bei halber Tide, sondern nahe Hochwasser!
„Iman! Wir müssen verholen!“
Sie schläft tief und fest. Ich klettere barfuß den Niedergang hoch. Flugs bin ich am Bug. Noch lässt sich die Kette holen. Als wir kurzstag sind, eile ich zum Cockpit zurück und starte die Maschine. Anker ausbrechen und nichts wie weg. Das war knapp.
Iman hebt den Kopf aus dem Schlafsack.
„Ist was?“
„Mussten verholen. Alles gut. Kannst weiterschlafen.“
Ich stoppe auf. Gehe nach vorne und lasse den Anker fallen. Néfertiti schwingt in den Strom. Hand auf die Ankerkette. Kein Ruckeln. Wenn der Motor schon mal läuft, dampfe ich den Anker noch kurz ein. Dann herrscht wieder Ruhe. Allerdings bin ich wieder wach und lese noch einmal 100 Seiten. Steige ein letztes Mal an Deck und checke den Anker. Alles ok. Ich knipse das Licht aus und bin in Sekunden eingeschlafen.
♦♦♦
Echt befremdlich der Club.