Ich hatte in meinem Artikel „Bye, bye Ostsee“ die Eselsbrücke: „Segel vor Motor vor Muskel“ benutzt. Christian hatte daraufhin in einem Kommentar die Frage aufgeworfen, ob Ruderboote Motorbooten überhaupt ausweichen könnten. Schließlich seien sie wesentlich unbeweglicher. Ruderboote kämen aber weder in den Ausweichregeln der KVR noch in den Ausweichregeln der SeeschifffahrtsOrdnung vor. Ich habe inzwischen weiter recherchiert und kann euch jetzt diese Frage beantworten!
Wie das so ist mit verinnerlichtenen Eselsbrücken: Man hinterfragt sie nicht mehr. So war ich im ersten Moment überfragt, als Christian nachhakte. Hatte ich da etwas Verkehrtes in die Welt gesetzt? Ich wußte auch beim besten Willen nicht, wo ich diese Eselsbrücke eigentlich aufgeschnappt hatte. Schnell schaute ich in die einschlägigen Segellehrbücher. Binnen müssen Motorboote den Ruderbooten ausweichen. (Das kann von Gewässer zu Gewässer unterschiedlich gehandhabt werden. Also unbedingt mit den örtlichen Regelungen vertraut machen, wer binnen unterwegs ist!) Übertragen auf den Bereich See, hätte das bedeutet, dass ich etwas Falsches behauptet hätte. Ich schrieb meine Meinung in einen Kommentar. Auch, dass Ruderboote, wenn sie nicht erwähnt werden, vermutlich auch keinen Vorrang genießen könnten…
Aber das Ganze ließ mir keine Ruhe und so rief ich bei der Wasserschutzpolizei Hamburg an. Der Polizist am Telefon wusste es auch nicht sicher.
„Aber ich habe hier eine ganzen Haufen von Kollegen sitzen. Ich gebe die Frage mal in die Runde.“
Ich wartete ein paar Minuten und bekam dann eine Antwort, die mich leider erst einmal auch nicht schlauer machte:
„Keiner wusste es mit Gewissheit.“ sagte die freundliche Stimme, „Aber wir sind der Meinung, dass man dem gesunden Menschenverstand folgend, als Motorbootfahrer dem Ruderboot ausweichen sollte. Schließlich ist man wesentlich schneller und kann auch leichter ausweichen. Aber, wenn sie es genau wissen wollen, sollten sie den Fachstab anschreiben.“ Er gab mir gleich die Email-Adresse.
Ich verfasste einen weiteren Kommentar mit diesem nichtssagenden Zwischenergebnis und schrieb den Fachstab der Wasserschutzpolizei an. Die Antwort des Fachstabs will ich im Folgenden zitieren:
„… Die Seeschifffahrtsstraßenordnung regelt die Vorfahrt innerhalb des Fahrwassers und bringt außerhalb des Fahrwassers die Kollisionsverhütungsregeln zur Anwendung.
Regel 18 der KVR regelt die Verantwortlichkeit der Fahrzeuge untereinander, d.h. wer ist wem gegenüber ausweichpflichtig.
Zu Ihrer konkreten Frage: Regel 18 besagt u.a.
Ein Wasserflugzeug auf dem Wasser muss sich in der Regel von allen Fahrzeugen gut klar halten und vermeiden, deren Manöver zu behindern. Sobald jedoch die Möglichkeit der Gefahr eines Zusammenstoßes besteht, muss es die Regeln dieses Teiles befolgen. |
Weiter steht gegenüber welchen Fahrzeugen ein Maschinenfahrzeug ausweichpflichtig ist.
Ein Maschinenfahrzeug in Fahrt muss ausweichen |
i) | einem manövrierunfähigen Fahrzeug; | |
ii) | einem manövrierbehinderten Fahrzeug; | |
iii) | einem fischenden Fahrzeug; | |
iv) | einem Segelfahrzeug. |
Da hier das Fahrzeug unter Ruder nicht aufgeführt ist, bedeutet es im Umkehrschluss, dass ein Fahrzeug unter Ruder einem Maschinenfahrzeug gegenüber ausweichpflichtig sein muss.
Ich hoffe ich konnte Ihnen entsprechend Ihrer Fragestellung weiterhelfen. Mit freundlichen Grüßen…“ (Fachstab Wasserschutzpolizei Hamburg)
Ja. Über das Wasserflugzeug habe ich mich auch gewundert, aber gründlich ist gründlich
Also: Die Eselsbrücke stimmt! Segel vor Motor vor Muskel. Im Geltungsbereich der SeeschifffahrtsstraßenOrdnung und der KVR. Binnen gelten andere Ausweichregeln! Die Elbe gilt allerdings bis zum Hamburger Hafen (einschließlich) als Seeschifffahrtsstraße und nicht als Binnengewässer! Auf dem Meer hat man nicht mit Ruderbooten gerechnet, aber auf der Elbe können sich Seeschiffe und Ruderboote denn doch einmal begegnen.
Nicht jeder Paddler im Badeboot wird die Regeln kennen, wenn nicht einmal die Polizisten im täglichen Dienst sicher sind. Und im Falle einer Kollision gilt ja auch immer noch das Manöver des letzten Augenblicks. Schuldfrei bist du also bei einer Kollision auch als Kurshalter nicht! Also auch wenn man die Ausweichregeln auf seiner Seite hat: Gegenseitige Rücksichtnahme und defensives Fahrverhalten sind trotzdem angeraten. (Und zeugen von Guter Seemannschaft! )
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Moin Klaus,
das ist ja super, mit welcher Ausdauer und Akribie Du dieses Thema weiterverfolgt hast. Ein großes und herzliches Dankeschön von mir, dem Auslöser dieser Recherche! Das ist echt sehr lehrreich, wie hier die Herangehensweise zur Auslegung der KVR ist.
Ich werde trotz alledem auch weiterhin als Motorfahrer einem Muskelfahrzeug entsprechend und nach Möglichkeit grossräumig ausweichen. Das fordern schlicht die Grundsätze guter Seemannschaft. Das natürlich immer vor dem Hintergrund, dass auch die weitere Schifffahrt im Umfeld klarsehen können muss, warum eine Kurslinie oder die Geschwindigkeit geändert wird. Wenn ich mir vorstelle, ein Seekajak soll einer mit 20 Knoten anrauschenden Gleitjacht ausweichen, wird mir ganz anders …
Herzliche Grüße
Christian
Lieber Christian,
gern geschehen. Es war mir auch ein inneres Anliegen. Ich finde es toll, dass Du beim Lesen mitgedacht und dann auch Deine Frage gestellt hast. Danke dafür!
Liebe Grüße
Klaus
Es gibt den Fall eines Motorbootfahrers, der mit 35 kn in Küstennähe einen Paddler in seinem Kajak überrannt hat. Dem Paddler wurden beide Beine abgetrennt. Der Motorbootfahrer beruft sich darauf, dass der Paddler ihm ausweichpflichtig gewesen wäre. Rein formal ist diese Argumentation korrekt. Leider habe ich nicht erfahren, wieweit sie vor Gericht auch tragfähig war.
Gruß
Matthias
Hi Matthias,
jetzt, da Du es sagst, erinnere ich mich auch an den Fall. Bei Pelzerhaken. Es handelte sich bei dem Opfer sogar um einen Surfer, der ausdrücklich ausweichpflichtig ist. Der Motorbootfahrer bekam 8 Monate Freiheitsstrafe zur Bewährung wegen grob pflichwidrigem Verhaltens entgegen den Vorschriften zur Sicherung des Schiffsverkehrs in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung.
Seine Argumentation hatte keinen strafmindernden Einfluss auf das Urteil.
Irgendwie festigt das meinen Glauben an unser Rechtssystem wieder ein bisschen…
Liebe Grüße
Klaus
P.S. Ich habe hier noch einmal einen Artikel von Segelreporter zu dem Thema gefunden.
Der Surfer lag aber ohne Wind im Wasser und war daher ein manövrierbehindertes Fahrzeug.
Hi Jörg, ich habe den Bericht gerade noch einmal gelesen. Demnach hatte der Surfer selbst etwa 10 Knoten drauf. Eine große Rolle spielte bei dem Unfall wohl auch die eingeschränkte Sicht, die dieses Motorboot vom Steuerstand aus bietet. Der Skipper hätte zusätzlich einen Ausguck postieren müssen, um den toten Winkel einzusehen.
Liebe Grüße
Klaus
Der Umkehrschluss gilt nicht. Den Regeln nach haben ein Motorboot und ein Ruderboot gleichen Rang, also keiner hat (speziellen) Vorrang.
Zu beachten ist die Grundregel, dass immer alle Wasserfahrzeuge verpflichtet sind, alles zu tun um die Kollision zu vermeiden, unabhängig davon ob sie Vorrang haben oder nicht. Die Vorrangregeln geben nur das zu bevorzugende praktische Verfahren zur Kollisionsvermeidung.
Nochmals, alle sind verpflichtet Ausschau zu halten und die Kollision zu vermeiden. Das bedeutet unter anderem, dass die Wasserfahrzeuge im Zweifelsfall kommunizieren müssen und die Ausweichmanöver koordinieren müssen.
Im Alltag am See werdet ihr oft entsprechende Rufe hören:
A: „Green to green please“
B: „Roger green to green“
Liebe Grüße,
Georg
Lieber Georg,
danke für Deinen Kommentar.
Meinen Recherchen nach gibt es diesen ausdrücklichen Gleichrang auf Seeschifffahrtsstraßen nicht und Binnen hat das Ruderboot oft sogar Vorrang vor dem Motorboot, wenn das nicht just in diesem Gewässer anders geregelt ist.
Wichtig finde ich Deinen Hinweis auf die Pflicht auch als Kurshalter eine Kollision zu verhüten, denn wenn zwei Boote zusammenstoßen gibt es keine Gewinner und im schlimmsten Falle nur Verlierer. Mancher hat dabei gar sein Leben verloren.
Trotzdem ist es meiner Meinung nach mehr als nur ein zu bevorzugendes praktisches Verfahren, denn das Verfahren beinhaltet eine zeitliche Komponente. Bis dahin ist der Kurshalter verpflichtet seinen Kurs beizubehalten. Erst wenn der Ausweichpflichtige offensichtlich seiner Ausweichpflicht nicht nachkommt, darf, und wenn der Ausweichpflichtige allein eine Kollision nicht mehr abwenden kann, muss der Kurshalter ausweichen. Dazu dient das (nicht grundlos so genannte) „Manöver des letzten Augenblicks“.
In der Praxis des Fahrtensegelns kommt das allerdings viel seltener vor als man gemeinhin denken möchte. Die meisten Fahrtensegler, die ich kenne, segeln defensiv. Sie ändern frühzeitig den Kurs um ein, zwei Grad, was auf See fast immer ausreicht, um die Situation Stehende Peilung = Kollisionsgefahr von Anfang an zu vermeiden.
Liebe Grüße
Klaus